Zusammenfassung
Ziel: Erarbeitung eines praxisnahen und einfach umzusetzenden Konzeptes für die sozialpsychiatrische
Arbeit in Fällen unbewohnbar gewordener Wohnungen.
Methode: Retrospektive Analyse von 186 Fällen des Sozialpsychiatrischen Dienstes (SpD) Dortmund
der Jahre 2008–2012, bei denen eine desolate Wohnungssituation im Vordergrund der
Fallproblematik stand.
Ergebnisse: Die Betroffenen litten an Erkrankungen aus dem gesamten Spektrum psychiatrischer
Krankheitsgruppen, 4 Diagnosegruppen machten mit zusammen 85% den Hauptanteil aus:
Sucht (F1)=41%, Psychosen (F2)=17%, Depression (F3)=(14%) und pathologisches Horten
(F 63,8 „ Messie-Syndrom“)=12%.
Der Altersgipfel lag zwischen 45 und 65 Jahren. Sehr häufig war eine isolierte Lebenssituation
festzustellen (84% alleinlebend, über 90% ledig, geschieden oder verwitwet). Häufig
kolportierte Vorurteile geringen Bildungsstandes konnten nicht bestätigt werden: nur
4% ohne Abschluss, 7% mit Förderschulabschluss, ansonsten regelrechte Bildungsabschlüsse.
Ähnlich gilt bei der beruflichen Anamnese: über 70% der Betroffenen fassten zunächst
beruflich Fuß. Bei der Erhebung der aktuellen Einkommenssituation zeigte sich jedoch,
dass zum Zeitpunkt des Auftretens der katastrophalen Wohnungssituation nur noch 5%
von Arbeitseinkommen lebten, 39% bezogen Rente, 44% Arbeitslosengeld (ALG) II.
Bei der Erfassung der durchgeführten sozialarbeiterischen Maßnahmen fanden sich große
Unterschiede zwischen den 4 verschiedenen Haupterkrankungsgruppen: F1: Behandlung
der körperlichen Begleiterkrankungen und der Sucht; F2: Psychiatrische Krankenhausbehandlung
und Einrichtung einer gesetzlichen Betreuung; F3: Entschärfung von Konflikten im Wohnumfeld
und Einrichtung einer gesetzlichen Betreuung; F63,8: Praktische direkte Hilfe der
Mitarbeiter des SpD sowie Organisation von Haushaltshilfe und Entmüllung.
Die Mehrzahl der Betroffenen war zum Zeitpunkt des Auftretens der katastrophalen Wohnungssituation
nicht in psychosoziale oder medizinische Hilfesysteme eingebunden, sie hatten allenfalls
Kontakt zu einem Hausarzt (32%).
Das Hilfeannahmeverhalten war in allen Diagnosegruppen durch Rückzug, Krankheitssymptomatik
und Widerstände erschwert. Am ausgeprägtesten war dies in der Gruppe der pathologischen
Horter: Hier nahmen nur 13% der Betroffenen die angebotenen Hilfen bereitwillig an
(F1: 27%, F2: 26%, F3: 38%). Dementsprechend waren in dieser Gruppe (F 63.8) die ungünstigen
Outcomekategorien „nichts erreicht“ und „Wohnung verloren“ mit fast der Hälfte der
Gruppe (44%) am häufigsten.
Der Anteil von Wiederholungsvermüllungen lag bei den Betroffenen mit F2 und F63,8
mit 40% doppelt so hoch wie bei den anderen beiden Diagnosegruppen.
Schlussfolgerung: Die Betroffenen zeigen eine zur Wohnungsproblematik parallele berufliche Desintegration
und eine weitgehende soziale und familiäre Isolation mit resultierenden komplexen
Hilfebedarfen. Die desolate Wohnsituation tritt nach oft langjährigem Verlauf einer
chronischen seelischen Erkrankung auf. Sie ist weder ein eigenes Syndrom, noch Zeichen
einer bestimmten psychischen Krankheit – unbewohnbar gewordene Wohnungen kommen bei
schweren und langen Verläufen aller psychiatrischen Diagnosegruppen vor. Die Art der
zugrundeliegenden Erkrankung hat Auswirkungen auf das Hilfeannahmeverhalten, die Prognose
und die Auswahl der geeigneten sozialpsychiatrischen Maßnahmen. Deshalb präsentieren
wir einen Vorschlag zum diagnosespezifischen Vorgehen ([Tab. 1 ]). Besonders schwierig mit sozialpsychiatrischen Interventionen erreichbar ist die
Gruppe der pathologischen Horter (sog. Messies). Insbesondere Betroffene mit Psychose
und pathologischem Horten benötigen die Installation langfristiger, aufsuchender Hilfen.
Abstract
Objective: To develop an intervention concept for the management of uninhabitable homes.
Methods: Retrospective analysis of 186 cases of the community mental health service in Dortmund
(Germany) presenting with a destitute situation of the domestic environment as core
problem.
Results: All patients suffered from psychiatric illnesses, mainly from addiction (F1: 41%),
psychosis (F2: 17%), depression (F3: 17%), and hoarding disorder (F63.8: 12%). Main
socio-demographic characteristics of our sample are: middle age (45–65 years, 48%),
male gender (73%), isolated situation (only 7% married, 84% living alone), normal
schooling (only 4% without completion of schooling, 7% attended a school for special
needs), after initial integration into employment nearly all patients suffered vocational
disintegration (5% employed, 44% unemployment benefit, 7% welfare, 39% pension or
invalidity benefit).
Psychosocial interventions differed between the 4 main diagnostic groups: F1: treatment
of dependence (rehab) and treatment of concomitant somatic diseases; F2: admission
to a psychiatric hospital and implementation of guardianship; F3: mediation of conflicts
with neighbours/landlords and implementation of guardianship; F63.8: direct practical
help by members of the community mental health team and organisation of home help/waste
disposal. In all diagnostic groups, acceptance of help was impaired due to social
withdrawal, resistance and psychiatric symptoms. At 13%, compliance with help and
interventions was lowest in the hoarder group (F1: 27%, F2: 26%, F3: 38%). Consequently,
in this group the poor outcome categories “nothing accomplished” and “lost flat/eviction”
were more frequent (44%, F1: 27%, F2: 26%, F3: 38%).
Conclusions: Concurrent to the deterioration of the domestic situation, patients suffer vocational
disintegration as well as family and social isolation. Uninhabitable homes occur in
the course of various severe and chronic psychiatric diseases. They don’t constitute
a syndrome and they are not characteristic for one specific diagnosis. It is important
to recognise the underlying psychiatric disease as diagnosis influences acceptance
of help, choice of appropriate interventions, outcome and prognosis. [Tab. 1 ] shows our suggestion for a diagnosis differentiated approach, relating appearance
of the home and behaviour of the patient to diagnosis, appropriate interventions and
prognosis. Hard to reach is the group of hoarders. Patients with a psychotic illness
and with hoarding disorder require implementation of long-term outreach help in their
homes.
Schlüsselwörter sozialpsychiatrischer Dienst - Vermüllungssyndrom - Diogenes-Syndrom - Messie-Syndrom
- pathologisches Horten
Key words domestic squalor - hoarding disorder - compulsive hoarding - Diogenes-syndrome - Messie-syndrome
- community mental health services